Die Mundartgruppe "Odermennig" wurde 1982 von Reiner
Lenz, Lutz Götzfried und Kurt Werner Sänger gegründet. Gefördert
vom Hessischen Sparkassen- und Giroverband und der
Arbeitsstelle "Sprache in Hessen" im Forschungsinstitut für
Deutsche Sprache an der Universität Marburg entstand 1984 die
Langspielplatte (Vinyl) "Gemorje Hinnerlaand" unter der Regie
von Alwin Michael Rueffer. Gestaltung: Wolfgang Rudelius. Ein Text- und Tonwerk, das die bis dahin traditionelle Heimatdichtung in Hessen konterkarierte und
moderne Ausdrucksformen in der ländlichen Dialektkultur in
Hessen begründete. In wechselnden Besetzungen
folgten Rundfunk- und Filmbeiträge sowie Auftritte und Lesungen
auf literarischen Dialektforen, Kleinkunstbühnen und
Folk-Veranstaltungen. Namensgeber der Gruppe ist das
Heilkraut Odermennig (Agrimonia eupatoria). In der mittelalterlichen
Heilkunde wurde dem Odermennig eine nahezu universelle Heilwirkung
zugesprochen. Heute schätzt man den Odermennig für Redner und
Sänger, da er wegen seiner adstringierenden und entzündungswidrigen
sowie antibakteriellen Eigenschaften besonders bei Beschwerden der
Atemwege bei Heiserkeit und Stimmbandreizungen Linderung verspricht.
Gemorje Hinnerlaand - Langspielplatte mit Textbeilagen, Gestaltung: Wolfang Rudelius, Regie: Alwin Michael Rueffer, Produktion: Robert Nettekoven, Quadriga Ton, Gema: 90931984, DNB Leipzig SA 86/04 589.
Weiß jemand, was
"Odermennig" heißt, oder besser: wo es liegt? Denn es muß,
wenn auch von weit her, "Orplid" verwandt sein, dem "Land,
das ferne leuch-tet": sein Bild erwächst aus Poesie. Aber das
ist nur eine, vielleicht die dunklere Hälfte der Wahrheit. Die
andere ist eher handfest und liegt
sozusagen vor unserer
Haustür, so etwa zwischen Gladenbach und Biedenkopf: das "hessische
Hinterland". Wer davon gehört hat, denkt gemeinhin nicht in
erster Linie an Poesie und Lied, eher noch an Brauchtum, Trachten
oder eine Mundart, die ferner Wohnenden unver-ständlich klingt. Damit
teilt diese Region die Ein-schätzung vieler anderer, die man lange
Zeit von den Zentren der Urbanität aus mehr oder weniger über-heblich
als "Provinz" abgetan hat, als "hinterwäld-lerisch"-
gerade ein Name wie das "Hinterland" konnte das ja nahe
legen. Erst in jüngster Zeit - mit dem Bedürfnis, "aus grauer
Städte Mauern" zu fliehen und vergleichsweise unberührte
Landschaft zu suchen - wächst die Einsicht, dass "Kultur"
ein weiteres Feld ist und daß zum Beispiel Dichtung nicht auf dem
Bereich sogenannter Hochsprache beschränkt ist. Die stärksten Impulse
gingen bisher wohl von der alemannischen Region im Südwesten aus,
vom "Dreyecksland", das Teile von Frankreich, der Schweiz
und der Bundesrepublik sprachlich und kulturell verbindet und wo
verschiedene Motive zu einer Neubesinnung auf regionale Kul-tur
geführt haben, also auch zum Gebrauch des Dialektes, vor allem im
Lied: Widerstand gegen Zerstörung der Landschaft, gegen
Atomkraftwerke, aber auch der Wunsch, über Grenzen hin-weg
Gemeinsamkeit zu pflegen gegenüber dem Zugriff anonymer und ferner
Verwaltungen und Konzerne.Natürlich waren damit
auch Gefahren verbunden: Krähwinkelei und Rückschritt zum "obselet
Volkstümlichen", Abwertung zivilisatorischer Notwendigkeiten
gegenüber heimatlich-er Tradition.
Mancherlei Folklore, die auf diese
Weise scheinbar rekultiviert wurde, hatte keinen anderen Zweck, als
dem Tourismus zu dienen: Butzenscheibenromantik gegen
Hochhaus-Tristesse und so ähnlich. So hat auch die "Wiederentdeckung"
des Volksliedes nur zum geringen Teil das an den Tag gebracht, was im
vorigen Jahrhundert in Vergessenheit geraten ist: den kritischen
An-spruch, der damit verbunden war, den Aufschrei der Unterdrückten -
neben dem Bedürfnis nach Geborgen
heit, Gemeinsamkeit im
Kreise Gleichgestimmter. Wer denkt schon daran, wenn er "Volkslied"
hört, daß eben, wie Bertolt Brecht gesagt hat, das "Volk"
nicht "tümlich" ist. Und daß "Heimat"
die Menschen nicht für alle Zeiten auf einmal gefundene
Ausdrucksweisen fix-iert, festgelegte Trachten und Bräuche zum
Beispiel - so bedauerlich es sein mag, daß davon kaum noch etwas
geblieben ist. Wer Heimat nur retrospektiv begreifen kann, hat sie
schon auf-gegeben. "Die Wurzel der Geschichte", sagt Ernst
Bloch, "ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten
umbildende und überholende Mensch. Hat ersich erfaßt und das Seine
ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet,
so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und
worin noch niemand war: „Heimat."
Nach diesem notwendigen Umweg
zurück ins Hinterland und endlich zum besonderen Anlaß dieser
Betrachtung. Da ist eine Langspielplatte mit dem Dialekt-Titel
"Gemorje Hinnerlaand", eine Aufnahme der Gruppe
"Odermennig". Dieser Versuch ist großartig gelungen. Da
ist nichts zu vernehmen von jener Heimattümelei, mit der
Mundartdichtung sich oft selbst ins Abseits verweist. Die drei
Poeten, Musikanten und Interpreten
von"Odermennig"
- zwei Sozialarbeiter und ein Architekt - haben in Text und Musik
Formen gefunden, in denen Tradition und Moder-nität eine überzeugende
Synthese eingehen. Das zeigt die in jeder Hinsicht weltläufige
Musik, die großenteils Sprechen und Sprechgesang untermalt und
begleitet, zum Beispiel mit Elemen-ten des Jazz, des Blues; und es
kommt ebenso zum Ausdruck in
den Formen und der
Meta-phorik der Texte.
Ganz erstaunlich also, was der Dialekt dazu
beitragen kann - worauf wir also verzichten, wenn wir uns dieser
Klangmöglichkeiten begeben. Hervorragend auch die Plattenhülle,
gestaltet von Wolfgang Rudelius: Auf der Vorderseite ein Blick auf
die Hügellandschaft des weiten Hinter-landes. Ganz vorne ein
Bilderbuch-Hirtenbub mit Stecken, Schlapphut, Latzhose, Blumenkorb,
im Hintergrund geht der Globus auf: die ganze Welt. Wenn man bedenkt,
was aus einer deut-schen Landeshauptstadt zur Fastnacht an
"Volkstümlichen" in die Öffentlichkeit dringt und wenn
man diese Schallplatte hört - kann es da noch eine Frage sein, wo
man seine geistige Hei-mat lieber sucht?
Klaus Klöckner, 1984, Hessischer Rundfunk,
Schulfunk.
Eine wirkliche Entdeckung aber ist die Gruppe
Odermennig, die die Form des Melodrams wiederbelebt, indem sie ihre
stimmungslyrischen oder satirischen Texte zu Gitarren- oder
Harmonikamusik vorträgt. Bedächtig aufbauende Klavierakkorde
intonieren den gemessenen Schritt des Landmannes, artikulieren seine
melancholische und fast verbitterte Reaktion auf die Härte seiner
Existenz, bis der kontrapunktierende Metal-Sound des Saxophons abhebt
aus den Molltönen und aus den Tiefen der Depression. Der
schwärmerische Ausflug egalisiert die dum-pfe Verschlossenheit, setzt
die Vitalität der Natur dem Frust des Alltags entgegen. Die
einfühl-same musikalische Begleitung gründet auf phlegmatischen
Rhythmen und versucht nicht nur die begrenzten instrumentalen
Möglichkeiten früherer Zeit nachzuvollziehen. Eine in sich nur in
vorsichtigen Tonsprüngen bewegende Melodie begleitet dabei den meist
rezitativen Gesang, bis die aus dem Hintergrund heraufwachsende
zweite Instrumentalstimme die geweckten Emo-tionen sanft,aber bestimmt
fortträgt. Fast fühlt man sich an fernöstliche Meditationsmusik
er-innert.
Odermennig – ein Pflänzchen ganz besonderer
Art" titelte der "Hinterländer Anzeiger" in einer
Ausgabe Ende 1983 und meinte damit nicht das gleichnamige Ackerkraut
selbst, sondern ein nach ihm benanntes Trio aus Marburg und Gönnern.
Fast 27 Jahre später ist jenes Pflänzchen noch exotischer als
damals, denn Odermennig machten etwas, was vor ihnen keiner gewagt
hatte und seitdem niemand wiederholt hat. Auf ihrer ersten und
einzigen im Februar 1984 veröffentlichten LP "Gemorje
Hinnerlaand" präsentieren Kurt Sänger, Lutz Götzfreid und
Reiner Lenz Lieder, Lyrik, Burlesken in mittehessischer Mundart, dem
Hinterländer Platt, verzahnt mit zeitgenössischen
angloamerikanischen Musikeinflüssen. War es schon damals
anachronistisch, sich auf diese Weise der regional auf den alten
Kreis Biedenkopf beschränkten Sprache der Eltern- und
Großelterngeneration für den eigenen künstlerischen Ausdruck zu
bedienen, erscheint es aus heutiger Sicht eine einmalige Gelegenheit,
diesem eigentümlichem Dialekt in einem künstlerisch-musikalischen
Kontext zu begegnen.
Bevor man die LP auflegt, stimmt zunächst
das phantastisch-surreale Foldoutcover-Artwork von Grafiker Wolfgang
Rudelius auf die scheinbar außerirdische Abgeschiedenheit des
Hinter-lands und seine kauzigen Bewohner ein. Vor der weitläufigen,
in schwarzweiß gehaltenen, Kulisse eines Wiesengrundes blickt den
Betrachter ein kleiner Junge, ohne Schuhe, mit ver-schiedenfarbigen
Socken und Latzhose frech aber liebenswert an. Einen geschnitzten
Wander-stock in der einen, einen Korb mit frisch gepflückten Blumen
in der anderen Hand. Im Hin-tergrund spazieren vergnügt ein paar
Einheimische. Kühe grasen friedlich auf der Weide. Am Horizont
prangt entlegen nicht der Mond am Himmel, sondern die Erde.
Eindrücklicher könnte man das Hinterland kaum karikieren und die
Stimmung von "Gemorje Hinnerlaand" andeuten.
"Radio
Weckmaschine" eröffnet das Album. Lutz Götzfried besingt darin
eine neuen technische Errungenschaft, einem Radiowecker, der ihm den
grauen Arbeitsalltag versüßt. Das anschließende impressionistische
"Toiblingswald " ist eine von Kurt Sänger träumerisch, im
Sprechgesang vorgetragene Ode an die heimatliche Natur mit
sozialkritischen Untertönen. Dezent begleitet von Reiner Lenz auf
der Akustikgitarre und Mundharmonika.
Bereits hier offenbart sich eine Aufgliederung, die
über weite Strecken des Albums aufrecht erhalten bleibt. Götzfrieds
augenzwinkernde, teils derbkomischen Burlesken bilden den Gegenpol
zu Sängers sanftpoetischen Songentwürfen und den von Lenz
arrangierten nachdenklichen Gedichtvorträ-gen , die nur sparsam und
gezielt Ironisches einflechten. Gemeinsamkeiten offenbaren sich immer
dann, wenn kritische Auseinandersetzungen mit heiklen Themen wie
Umweltproblem-en ("Spätsummer") oder Fremdenfeindlichkeit
("Elsje") anstehen.
Heile Dorfidylle wird von keinem der
beiden zelebriert. Zu den jeweiligen Höhepunkten ge-hören Götzfrieds
"Hannes" und Sängers "Entscheirunge". "Hannes"
erzählt die Geschichte des Ockershäusers Konrad und seinem
störrischen Ochsen Hannes während "Entscheirunge" einen
gewitzten Dialog von Henner und Ludwich widergibt:
Im Gesamteindruck stehen die Texte bei Odermennig
zwar im Fokus, die musikalische Vielfalt, die Feinheit der
Instrumentier-ung spielt dennoch ebenfalls eine große Rolle. Clever
kontrastieren die Arrangements die Tradition der Sprache und
verhindern so auch musikalisch jegliche Nähe zur biedereren
Volkstümelei.
Neben konventionellen Begleitinstrumenten wie Klavier
und Akustikgitarren sorgen Zither, Alt-Saxophon, Flöten, Trommel und
Klarinette für das einprägsame Klangbild von Gemorje Hinnerlaand
und lassen subtile Einflüsse aus Folk, Jazz und Chanson erkennen.
Das Quer-flöten-Intro von Gastmusiker Wolfgang Schmidt auf einer von
Götzfrieds Balladen "Weltunergang (Lisbeth)", dem
vielleicht schönsten Lied des Albums, weckt Assoziationen zu Jethro
Tull und die virtuosen MundharmonikaSoli von Reiner Lenz bei
"Enscheirunge" und dem Psychodelic-Trip "‘s letzte
Delirium (woar besofe)" lassen bereits auf dessen späteres
Engagement in verschiedenen Blues-Combos schließen.
Leider lösten sich Odermennig bereits kurz nach der
Entstehung von "Gemorje Hinnerlaand" in dieser Besetzung
wieder auf. Womöglich waren die unterschiedlichen künstlerischen
Ansätze von Götzfried und Sänger längerfristig doch nicht zu
vereinen. Umso erfreulicher, dass sie in ihrer kurzen gemeinsamen
Phase diese LP veröffentlichten und der Nachwelt so erhalten
blieben. Sänger führte die Band bis zu ihrem endgültigen Aus 1990
noch mit Jürgen Krebber (Gitarre) und Michael Neuner (Cello) fort,
ohne das es zu weiteren Veröffentlichungen kam. Anschließend
konzentrierte sich Sänger auf das Schreiben, hielt Lesungen und
wurde jour-nalistisch tätig. Reiner Lenz spielt inzwischen bei der
Darmstädter Band Papa Legba´s Blues Lounge. Lutz Götzfried hat die
kulturelle Leitung am Marburger Kaiser-Wilhelm-Turm.
Christian
Düringer, 30 Jahre LP "Gemorje Hinnerlaand",
Wiesbaden.